"Ein bisschen abnehmen vor der Studienfahrt",

dachte ich mir, "wäre doch ganz nett, schadet bestimmt nicht". So hat damals alles angefangen.

Ich war gerade achtzehn geworden, besuchte die Oberstufe des Gymnasiums und fühlte mich bisher eigentlich immer sehr wohl mit meiner Figur. Irgendwann begann ich von einem Waschbrettbauch zu träumen, achtete auf die Figur anderer, verglich mich häufig und hatte plötzlich Zweifel an meinem Körper. Mir kam der Gedanke abzunehmen ich fing an, "gesund" zu essen und nahm eine dauerhafte Ernährungsumstellung in Angriff.

Dank der ununterbrochenen Berieselung mit Diättipps und Abnehmstrategien durch sämtliche Medien fiel es mir überraschend leicht und ich lernte schnell, mich kalorienarm zu ernähren. Mein Ziel war es, bis zur Studienfahrt ein paar kleine Kilos runter zu bekommen. Der Erfolg blieb nicht aus, ich schaffte es abzunehmen und war stolz darauf, dass es mir so leicht fiel.

Leider zu spät merkte ich, dass ich eine Art Zwang entwickelt hatte und auch noch Wochen nach der Reise nicht mehr unbedarft essen konnte. Das konkrete Ziel war längst verschwommen und es ging mir gar nicht mehr um ein bestimmtes Gewicht oder eine Kleidergröße, die ich zu erreichen versuchte, sondern es drehte sich einfach nur noch alles darum, was wie viele Kalorien hat, und wann ich was esse. Es war einfach ein beruhigendes Gefühl nichts gegessen zu haben, denn jeder Bissen, so schien es mir, könnte mich dick machen. Die Fettrollen am Bauch schienen zu wachsen sobald ich etwas fett- oder zuckerhaltiges aß. Die Angst vor dem Zunehmen und das unerträgliche Gefühl eines vollen Bauches waren so groß, dass ich einen ständigen Bewegungsdrang hatte, dauern Bauchmuskelübungen machte und alles Gegessene sofort wieder abtrainieren wollte.

Seit Beginn der zwölften Klasse nahm ich die Schule sehr ernst, lernte gewissenhaft und steckte weitaus mehr Energie in schulische Angelegenheiten als in den Jahren zuvor. Dadurch dass ich Leistungssport treibe und mehrmals wöchentlich trainiere, ließ ich mir kaum noch Zeit für Freunde, gönnte mir keine Ruhe und verbrachte zunehmend Zeit am Schreibtisch. Mehr und mehr geriet ich auf diese Leistungsschiene, auf der sich unbemerkt auch mein Essverhalten widerspiegelte.

Obwohl ich längst kritisch von Mitschülern, Lehrern, Mannschaftskameradinnen und Trainern beäugt wurde, wurde mir erst viel zu spät bewusst, dass ich ein echtes Problem hatte. Das Eingeständnis: "JA, ICH BIN MAGERSÜCHTIG!" traf mich hart wie ein Stein und kam erst dann, als mein festes Vorhaben wieder etwas zuzunehmen, um den sportlichen Leistungsstand zu halten, kläglich scheiterte. Einfach wieder mehr essen ging nicht.

Meine Mutter war es schließlich, die mich dazu brachte den entscheidenden Schritt zu tun und mich endlich auf die Suche nach einem Therapieplatz zu machen.

Zu Anfang der Therapie stand die gezielte Gewichtszunahme im Vordergrund, was sehr anstrengend für mich war, denn es bedeutete, permanent gegen die eigenen Zwänge ankämpfen zu müssen. Erst mit der Zeit lernte ich wieder selbstverständlicher und ohne schlechtes Gewissen größere Portionen zu mir zu nehmen, essen machte wieder etwas Spaß.

Dadurch dass ich über Monate hinweg dauernd beschäftigt, total eingenommen von den eigenen Ansprüchen und dem gnadenlosen Leistungsdenken war, musste ich erst wieder lernen, meine eigenen Bedürfnisse zu respektieren und vor allem auch sie nicht abzuwerten, sondern dafür einzustehen.

So begann ich auch langsam meine eigenen Gefühle wieder wahrzunehmen, merkte nicht nur, wenn ich mich schwach fühlte oder Hunger hatte, sondern begann Dinge wahrzunehmen, die mir nie aufgefallen waren. Zum Beispiel wurde mir bewusst, dass es mich sehr belastete, in eine totale Außenseiterrolle geraten zu sein. Für meine Mitschüler war der Umgang mit mir sehr schwer geworden, denn ich hatte mich nicht nur äußerlich sondern auch im Innern stark verändert. Wenn ich auf diese Zeit zurück blicke, fällt mir auf, wie sehr meine Energie und Lebensfreude durch eine Passivität und Depressivität, die mich ständig begleiteten und durch den Alltag trieben, überschattet wurden.

Nach und nach konnte ich mit Hilfe der Therapie bekannte Gefühle neu entdecken, Freude an mir selbst und vielen Dingen wieder finden, viele Ängste abschütteln.
Es war ein wunderbares Gefühl, den eigenen Willen zu spüren, sich selbst ganz bewusst zu erleben und eigene Entscheidungen zu treffen.
Eigene Entscheidungen treffen, entdecken, dass ich mein Leben nach meinen Wünschen gestalten kann, das ist wohl eine der wichtigsten Errungenschaften meiner Therapie. Nun gehe ich meinen eigenen Weg...

Gefühle, die ich meinte, verlernt zu haben, wie etwa mich zu verlieben, kehren nach und nach zurück. Ich fühle mich frei und wieder wohl in meiner Haut, kann auf Menschen zugehen und einfach sein wie ich bin.

Heidrun