WIEDER LUST AUF DAS LEBEN HABEN

Während meiner Jugend ging ich an drei bis vier Tagen ins Schwimmtraining. Das Schwimmen machte mir Spaß. Ich ging gerne und mit hoher Regelmäßigkeit ins Training. Gut zu sein motivierte mich und gefiel mir. Außerdem lernte ich Harfe spielen. Dafür versuchte ich täglich zu üben und ging wöchentlich in eine Unterrichtsstunde. Regelmäßig zu üben hielt ich für notwendig um Fortschritte zu machen.

Zur Schule ging ich in eine Waldorfschule, davor auch schon in den Waldorfkindergarten. Der Kindergarten gefiel mir gut. Auch die Schule bereitete mir nie Schwierigkeiten – lernen fiel mir leicht, machte mir sogar oft Spaß – ich war wissbegierig und fleißig.

Ich habe einen großen Bruder, mit dem ich mich sehr gut verstehe. Mit meinen Eltern verstehe ich mich ebenfalls gut. Sie sind liebevoll und offen. Sie sind nicht getrennt. Zwar stritten sie manchmal, manchmal auch sehr heftig, doch im Allgemeinen war das Familienklima sehr angenehm.

Als ich 10 Jahre alt war zogen wir in unser eigenes Haus. Der Bau war eine anstrengende Zeit für die ganze Familie. Die Fertigstellung des Hauses erfolgte notdürftig. Die wirtschaftliche Lage meiner Familie war zu dieser Zeit prekär und sollte es auch noch einige Zeit bleiben. Es folgten anstrengende Jahre. Unglücklicherweise zeitgleich mit dem Einsetzen meiner Pubertät.

Dass es Mädchen gibt, die sehr viel essen und sich anschließend übergeben, las ich erstmal in einer Zeitschrift. Mir war klar, dass diese Mädchen litten. Dennoch erschien mir diese Möglichkeit irgendwie plausibel – auch um den großen Hunger zu stillen, den ich so oft verspürte, ohne dabei zuzunehmen. Zuzunehmen ängstigte mich schon damals. Anfangs tat ich es nur selten: einmal in der Woche, einmal in zwei Wochen... Ich war der Meinung, die Kontrolle zu haben und jederzeit mit dem Essen und Erbrechen aufhören zu können. Schließlich war ich bei zweimal Erbrechen pro Tag und hatte keine Kontrolle mehr. Es ging mir nicht gut. Das Schwimmtraining fiel mir oft schwer. Im Spiegel gefiel ich mir überhaupt nicht. Mein Gesicht war geschwollen, meine Hände irgendwie schwammig und ich fühlte mich benebelt. Meine Leistungen litten jedoch nicht. Mit gleichbleibender Disziplin blieb ich beim Schwimmen, bei meinem Harfenunterricht sowie in der Schule fleißig. Weder meine Familie noch meine Freunde wussten unter welchem Druck ich stand.

Meine erste Rettung war ein Auslandspraktikum in einer französischen Gärtnerei. Kein Schwimmtraining, kein Harfenunterricht, keine Familie, eine regelmäßige Essstruktur durch die Gastfamilie und sehr hellhörige Badzimmer führten zu einer 6-Wöchigen Phase ohne übermäßiges Essen und Erbrechen. Im Glauben beides hinter mir gelassen zu haben erzählte ich nach meiner Rückkehr meiner Mutter von den Schwierigkeiten, die ich in der Vergangenheit mit dem Essen gehabt hatte. Sie war überrascht. Die Schwierigkeiten kamen binnen eines Monats zurück. Einmal mit meiner Mutter gesprochen, ging ich wieder auf sie zu. Zunächst suchten wir eine Beratungsstelle auf. Ich ging diszipliniert und fleißig hin – geholfen haben mir die Gespräche nicht. Seit ich erlebt hatte, dass ich mit normalem Essen nicht zunahm, ein schöneres Gesicht hatte und nicht mehr benebelt war wuchs mein Wunsch und Ziel gesund zu werden mit jedem Tag. Mein Kampf gegen die Bulimie, der später zu dem Wunsch frieden mit ihr zu schließen wurde, begann. Zu dieser Zeit war ich 16 und blickte auf etwa 4 Jahre gestörtes Essverhalten zurück.

Mit meinem ersten stationären Klinikaufenthalt (9 Wochen) war es nicht getan. Ich hörte auf mich zu übergeben, hörte auf übermäßig zu essen, nahm ab und „lernte“ abzunehmen. In den folgenden zwei Jahren verlor ich viel Gewicht. Sehr dünn geworden erkannten weder Schul-, noch Schwimmfreunde, weder meine Familie noch ich selbst die alte kraftvolle, fleißige, engagierte, starke Karina wieder. Durch ein erteiltes Sportverbot wendete ich mich vom Schwimmtraining ab und verlor den Kontakt zu meinen Freunden. Durch mein restriktives Essverhalten zog ich mich immer tiefer in mich zurück und verlor den Kontakt zu meiner Familie und zu mir selbst. Inzwischen war ich in der Phase des Abiturs angelangt und es kostete mich all meine Kraft zu lernen und mich darauf zu konzentrieren wenig zu essen.

Meine zweite Rettung war ein 2-Monatiger Auslandsaufenthalt als Au-Pair in Kanada. Dünn und angestrengt vom Abitur startete ich Ende Juli ins Ausland. Den Anspruch an mich selbst, mich verantwortungsvoll um die mir anvertrauten Kinder zu kümmern, erfüllte ich. Der Druck allerdings war so hoch und auch mein Hunger, dass ich übermäßig aß und mich übergab. In dieser Zeit verstand ich, dass dünn sein nichts mit lebendig sein zu tun hat. All die Wünsche und Sehnsüchte, die ich an ein dünnes Ich gekoppelt hatte waren nicht eingetreten. Mein Kampf gegen die Magersucht, der ebenfalls später zu dem Wunsch mit ihr frieden zu schließen wurde, begann. Ich war mittlerweile 19, blickte auf vier Jahre Bulimie und drei Jahre „dünnes-Ich“ zurück.

Mein zweiter stationärer Klinikaufenthalt legte den Grundstein für meine Heilung. Ich nahm Gewicht zu. Fühlte mich geborgen in der Gemeinschaft der Patienten. Lernte meine Gefühle anzunehmen und direkt zu kommunizieren. Mein Leitsatz dieser Zeit lautete: „Ich bin ok, mit all meinen Gefühlen.“ Nach meiner Rückkehr änderte sich vieles. Ich ging auf eine Reise und hatte die Kraft dafür. Ich baute alte Freundschaften wieder auf, sprach mit meinen Schwimmfreunden, erzählte von meiner eigenen Unsicherheit im Umgang mit dem Sportverbot, bat um Verzeihung. Ich baute den Kontakt zu meinem Bruder wieder auf, setzte mir zum Ziel unser Verhältnis wieder so gut wie früher werden zu lassen. Es gelang mir. Ich trat in Kontakt mit meinen Eltern. Bat meinen Vater in psychotherapeutische Behandlung zu gehen, da es für mich nicht aushaltbar war zu sehen, wie ihn die wirtschaftliche Situation der Familie verändert hatte. Ich schrieb Abschiedsbriefe an die Bulimie und an die Magersucht.

Ohne Druck ging es mir gut. Im zweiten Jahr nach meinem Abitur entschied ich mich für ein freiwilliges soziales Jahr. Es ging mir gut, doch es wurde wieder stressig. Mein Chef war aufbrausend. Ich trug viel Verantwortung. Es wurde schwieriger mit dem Essen. Ich fühlte mich unsicher. Erneut litt ich unter kleinen Fressattacken. Im Zeichen meines Durchhaltevermögens und meines Perfektionismus (der manchmal auch hilfreich sein kann) war ich nicht zufrieden mit meiner Heilung. Ich war mir sicher, es schaffen zu können ganz gesund zu werden. Auf einem Seminar traf ich ein Mädchen, dessen Ausstrahlung mich beeindruckte – selbstbewusst, schön, intelligent. Wir kamen ins Gespräch und ich konnte nicht glauben, dass sie unter Essstörungen gelitten hatte. Ein Gefühl sagte mir, dass ich zu ihrer Therapeutin musste um ganz gesund zu werden. Diesem Ziel folgend wählte ich Freiburg als meinen Studienort und begann meine Therapie bei Andrea Petruschke.

Frau Petruschke war mehr als eine Rettung. Sie ist diejenige, die mir geholfen hat wieder die zu werden, die ich eigentlich bin. Mit ihrer Hilfe schaffte ich meinen Bachelorabschluss, ich hielt dem Druck eines Studiums stand, ohne ihn durch gestörtes Essverhalten zu kompensieren. Ich lernte Freundschaften zu pflegen und mich selbst lieb zu haben, ernst zu nehmen, zu schützen und für mich zu sorgen – Verantwortung für mich zu übernehmen. Am aller wichtigsten war es für mich zu lernen mit mir selbst in Kontakt zu kommen, auf mich zu hören und meinem inneren Kompass zu vertrauen. Frau Petruschke half mir mich mit Schwierigkeiten angemessen auseinanderzusetzen und mit ihnen umzugehen, anstatt sie „weg“ zu essen. Mein Wunsch die Bulimie weg zu kriegen und den Frust darüber, dass es nicht klappte lernte ich umzudeuten. Er wich einer annehmenden Haltung gegenüber der Bulimie, als einem Teil meiner Vergangenheit. Den Wunsch sie loszuwerden konnte ich somit loslassen. Ein wesentlicher Teil meiner Heilung ist der aufmerksamen Beobachtung von Frau Petruschke zu danken, die meinen starken Eisenmangel erkannte und ihn nicht mit einer Depression verwechselte (die Symptome sind sehr ähnlich). Nach zwei Jahren Therapie habe ich so viel gelernt, wie ich es mir nie hätte träumen lassen. Ich bin Frau Petruschke von ganzem Herzen dankbar für die Therapie bei ihr. Ich kann mit Überzeugung sagen, dass sich jede einzelne Therapiesitzung bei ihr gelohnt hat.

Mein letzter Termin bei Frau Petruschke liegt mittlerweile über ein Jahr zurück. Mittlerweile studiere ich einen Masterstudiengang. Zwischen dem Bachelor- und dem Masterstudium war ich für drei Monate im Ausland. Es war eine der besten Zeiten meines Lebens. Als Saisonkraft arbeitete ich sehr viel, doch es gelang mir mich dem Druck zu stellen und ihn nicht mit ungesundem Essverhalten zu kompensieren. Ich freue mich auf meine Zukunft und bin oft einfach nur glücklich und dankbar dafür, dass ich es geschafft habe ins Leben zurück zu kommen. Ich bin zufrieden mit meinem Studium, ich bin zufrieden damit wie ich esse, ich fühle mich wohl in meinem Körper, fühle mich schön! Ich bin zufrieden damit wie ich Sport treibe und ich habe Lust auf das Leben.