Abschied und Tod
Sind nur andere Bezeichnungen für
Neuanfang und Leben.

Alles was Du zurück lässt
Findest Du in einer anderen Form immer wieder.

Tibetische Weisheit

Abschlussbericht meiner Therapie bei Andrea April 2007

Im Oktober 2005 habe ich Hilfe gesucht. Jeder Tag war zu dieser Zeit geprägt von Gedanken an Essen, Essanfällen, Fressen und Kotzen, von Angst vor Arztbesuchen, Bauchweh, meinen Körper betasten und letztendlich von großer Hilflosigkeit. Bis zu drei Essanfälle, meistens waren es glaube ich zwei täglich, habe ich gebraucht, geliebt, gehasst – die Gedanken danach, das „und jetzt nie wieder“ hat sich nicht verwirklichen lassen. Dazwischen ständig Gedanken ans Essen, Artikel über gesunde Ernährung, andere Leute anschauen und beurteilen nach ihrer Figur, mich vergleichen...
Es war blanker Horror. Wenn ich es jemandem sagen würde: Was passiert – Um Gottes Willen mit dem bestehenden Sarah-Bild? Für wie krank muss man mich halten? Wen werde ich alles enttäuscht haben? Die Starke wird zur Schwächsten. Und wie um alles in der Welt konnte ich es damals verantworten nach Peru zu gehen? Wie konnte ich dort meine Nahrung kotzen, wenn andere hungern? Wie pervers bin ich? Und nicht mal mehr dünn!
Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, ist alles verschwommen, ich kann vor meinem inneren Auge keine klaren Linien erkennen, es war ein Strom und ich mittendrin. Und trotzdem habe ich den Schritt ins Studium und in die Therapie geschafft.
Alles begann, so denke ich es heute, während dem Abitur. Ich meine den Beginn der krass funktionalisierten und gelebten Essstörung. Ich meine nicht die Existenz verzerrter Wahrnehmungen, eines nicht vorhandenen Umgangs mit Schwierigkeiten und eines letztendlich ziemlich geringen Selbstwertgefühls sowie erste Anomalien im Umgang mit Essen: Diese Basis hat sich über Jahre zu einem fruchtbaren Boden für mein bedrohliches Verhalten gebildet. Die Ursachen sind mir heute klar und sie sind nicht verschwunden. Ich habe gelernt sie zu akzeptieren und mit ihnen umzugehen, mich abzugrenzen und mich mit ihnen auseinanderzusetzen. Vor allem jedoch bin ich keine Superfrau, die alles mit links meistert, sondern habe Schwierigkeiten und Schwächen, die werden bleiben und das dürfen sie auch. Wie bei allen menschlichen Menschen.
Die Essstörung während dem Abitur diente mir. Sie half mir Spannungen abzubauen – während es Zeiten der drastischen Reduzierung der Nahrungsaufnahme gab, war es auch möglich viel zu essen und durch Kotzen mein relativ geringes Gewicht, zu keiner Zeit bedrohlich niedrig zu halten. Die letzten Monate hier in Deutschland wurde ich wiederholt auf meine Figur angesprochen, oft anerkennend, ab und zu jedoch auch besorgt. Für mich war es immer, egal wie, eine Bestätigung und bedeutete Nahrung für meinen Selbstwert, es waren Momente des Stolz-Seins. Das Abi habe ich gut geschafft. Der Level der Spannung, die die Essstörung verursacht durch Geheimhaltungsdruck, körperlicher Schwäche und Scham, lag weit unter dem Level der Spannung, die ich abbauen konnte. Sie diente mir also, das Spiel funktionierte noch. Aber es dauerte nicht lange und ich verlor die Kontrolle. Ein halbes Jahr später, schon vor Abreise nach Peru, war ich an einem Punkt, an dem ich – So sehe ich es heute – Weitgehend die Kontrolle verloren hatte. Hätte ich nicht fliegen dürfen? Diese Frage hat lange an mir genagt. Letztendlich komme ich nun zu folgendem Schluss:
◊Es war richtig zu fliegen.
◊Es war ein Risiko zu fliegen.
◊Es war mithin unverantwortlich zu fliegen.
◊Ich kam durch das Gehen sehr schnell an den Punkt der absoluten Entgleitung meines Essverhaltens.
◊Nur so habe ich letztendlich so schnell den Entschluss fassen können, dass ich Hilfe brauche.
Schon in den ersten drei Wochen ist mir das Essen entglitten. Ich war nicht mehr Herr der Dinge: Durch das ständige in der Gruppe sein, das zusammen essen, bekocht werden, die ständige Präsenz von Nahrungsmitteln auf der Straße und die Ausnahmesituation überhaupt kam es schnell zum Punkt, an dem ich kaum noch Kontrolle verspürt habe. Heimlich Kotzen bedeutete einen enormen Stress und Aufwand. Auch und ganz besonders in beiden Gastfamilien, in denen ich mich aufhielt. Es kam zu Situationen, an die ich mich erinnere und in denen ich mich nicht wieder erkenne. Mich dafür nicht zu verurteilen, sondern meine damalige Hilflosigkeit zu erkennen ist schwer und macht mich, wenn es gelingt, unsagbar traurig.
Ich glaube nach einem halben Jahr dort habe ich erkannt, dass etwas wirklich nicht mit mir stimmt. Die Essstörung griff auf andere Bereiche über, meine Gedankenwelt, meine Persönlichkeit, meine Autonomie. Was also tun? Heimfliegen? Letztendlich habe ich mich nie wirklich ernsthaft um eine Lösung gekümmert.
Hier angekommen im August 2005 war ich zwischen allen Welten, mein Essverhalten in dieser Zeit schon seit längerem völlig verselbstständigt, Rückzug, völlig aus dem Tritt und aus dem Leben katapultiert. Dass etwas extrem verrutscht war, wurde mir nach und nach klar. Die ersten Hamstereinkäufe im Neukauf erschreckten mich zunehmend. Und dann tat ich wohl das Beste, was ich hätte tun können: Ich begann im Internet nach Hilfsangeboten für Essstörungen zu suchen, heimlich und ohne irgendjemanden jemals über meine Situation informiert zu haben.
Den ersten Termin bei Andrea nahm ich nicht wahr, obwohl ich mich wochenlang darauf gefreut hatte. Gott sei Dank habe ich mir dann doch noch ein Herz gefasst.
Den Weg aus der Essstörung gehe ich seitdem. Vieles ist besser, manches mehr, manches weniger. Die größte Erkenntnis in meinen Treffen mit Andrea war, dass der Weg aus der Krankheit lange ist, vielleicht für immer, dass das Problem letztendlich nicht das Essen ist, dass ich geduldig sein muss mit mir und vor allem immer wieder achtsam...
Bin ich gesund? Werde ich gesund sein? Ich glaube fest daran, dass ich es eines Tages schaffen werde vollständig auf mein falsches Verhalten zu verzichten, dass auch der Kopf gestörte Gedanken nicht mehr braucht, sondern dass ich mich innerer Freiheit hingebe und zu mir stehe. Und das ziemlich bedingungs- und maßlos. Oft gelingt mir das schon und es fühlt sich toll an. Kotzen passiert mir nur noch in extremen Situationen – danach wird mir meist sehr schnell klar an was es lag und ich kann dann für die Zukunft diese Situationen meiden oder meistern, letztendlich mein Leben nach meinen Bedürfnissen gestalten. Dass ich diese Bedürfnisse durchaus stark fühlen kann, wenn ich zu ihnen stehe, ist ein neues Gefühl. Wie traurig, dass ich diese so lange durch Essen unterdrückt und geleugnet habe.
Viele kleine und große Schritte hängen mit meinem Gesundwerden zusammen, letztendlich jeder Tag, aber auch mein Auszug, das Finden in mein Leben, das Gezeigtbekommen wirklich in meiner Person unterstützt zu werden, egal wie es läuft bedingungslos geliebt zu sein...
Ich möchte Dir, Andrea, aus tiefstem Herzen danken, weil Du mir den Weg in mein Leben gezeigt hast, weil Du mich gesehen hast. Du warst mir ein Segen und wirst es mir bleiben.
Ich möchte Dir, Marcel, aus tiefstem Herzen danken, weil Du mit so viel Respekt, Anteilnahme und Liebe reagiert hast, als ich Dir von all dem erzählt habe. Du bist nicht den von mir erwarteten Schritt zurückgegangen, sondern auf mich zu. Ich bin nicht perfekt, aber ich weiß, dass ich es für Dich auch nicht sein muss... Du stehst zu mir und sagst, dass es für Dich kein Thema ist, wenn ich den Weg vielleicht mein ganzes Leben lang gehen muss...
Ich möchte meinen Eltern, Andi und Moni danken, weil ihr mich von Beginn an, seit jenem Dienstagabend, unterstützt habt. Ich durfte die wundervolle Erfahrung machen, dass egal was passiert, die Familie da ist.
Ich möchte Isi und Ute danken, weil ihr die beiden Freundinnen wart, die immer wieder mit Interesse nachgefragt haben, die mir gezeigt haben, dass sie mit mir sind... ich fühl mich euch so verbunden.
Ich möchte mir danken, weil letztendlich ich mir an einem bestimmten Zeitpunkt ermöglicht habe (mich) zu leben. Mir kommt es so vor, als sei das das Größte, was ein Mensch für sich selbst tun kann.