Nina's Rückfall

Mein Weg aus der Essstörung

Wo soll ich anfangen?! Der Beginn meiner Essstörung liegt bereits über 10 Jahre zurück...

Ich werde mit dem Grund, warum ihr meinen Bericht lest, beginnen. Zum einen hat mich Andrea gefragt, ob ich meinen Weg aus der Essstörung auf ihre Internetseite stellen möchte, zum anderen sehe ich auch darin die Chance noch mehr die Essstörung hinter mir zu lassen und ein gesundes Leben zu führen.

Das erste Mal habe ich mir mit knapp 15 Jahren den Finger in den Hals gesteckt. Zu Beginn war es gelegentlich und ohne Ziel. Aus gelegentlich wurde mehrfach, aus mehrfach wurde täglich und aus täglich nach jedem Essen. Meine Gedanken drehten sich immer mehr um das Essen – jede Kalorienzahl war mir bekannt, über jeden Bissen wurde nachgedacht, nach jedem Essen plagte mich ein schlechtes Gewissen und die Gedanken wie „Jetzt wirst du dick werden“, „Du bist ja eh schon fett“, „Du bist nicht schön“, „Wie kann man mich so lieben?!“, „So findet dich kein Junge schön!“ kreisten nun täglich in meinem Kopf.
Ich war schon immer sehr ehrgeizig, zielstrebig und hatte schon immer hohe Erwartungen an mich selbst. Es wurde zu einem Ehrgeiz dünner, dadurch schöner sowie liebenswerter zu werden und die Kontrolle über die Teilpersönlichkeit „kranke Nina“ zu haben. Zu diesem Zeitpunkt war ich natürlich noch weit entfernt dies so einzusehen. Ich nahm weiter ab und entwickelte täglich eine größere Zielstrebigkeit eine noch bessere „Kontrolleurin der kranken Nina“ zu werden.

Meine Schwester beobachtete meine Kotzgänge nach dem Essen jedoch nicht lange und ging mir täglich auf die Nerven, dass ich mit der Kotzerei aufhören solle und nicht weiter abnehmen dürfe. Meine Schwester kann sehr hartnäckig sein und es war sehr anstrengend für mich die Essstörung in vollem Masse auszuleben. Zum damaligen Zeitpunkt habe ich nicht verstehen wollen beziehungsweise können, dass sie sich so in mein Leben einmischt. Heute bin ich ihr dafür sehr dankbar, denn ich weiß zwischenzeitlich, dass irgendwann der Punkt kommt, an dem jede Hilfe zu spät kommt. Darauf werde ich später in meinem Bericht nochmals eingehen.

Nach langen Diskussionen, vielen geflossenen Tränen in unserer Familie und starkem Druck meiner Familie, dass ich freiwillig etwas tun müsse oder sie sonst etwas unternehmen, habe ich eine analytische Therapie bei einer Psychologin begonnen. Nach 1,5 Jahren wurde die Therapie beendet mit dem Ergebnis für mich, dass diese Therapie mir nicht geholfen hat. Meine Essstörungsgedanken waren zwar nicht mehr so präsent, jedoch wurde ausschließlich in meiner Kindheit, in meinem Verhältnis zu meinen Eltern, Geschwistern und Freunden beziehungsweise den Beziehungen zu ihnen nach Ursachen für die Essstörung gesucht. Wie ich mein Verhalten zum Essen verändern kann und die Essstörung in den Griff bekommen kann, war nicht Inhalt der Therapie. Ich empfand die Therapie lediglich als ein „Bohren“ in meiner Vergangenheit und nicht als eine Unterstützung auf dem Weg zurück in ein gesundes Leben.

Ich kann und werde zu den Ursachen meiner Essstörung hier nichts schreiben beziehungsweise nichts schreiben können. Es war jedoch keinesfalls ein Ereignis in meiner Familie – meine Kindheit war wunderschön!

Da das Problem somit noch immer bestand, ich zwar nicht mehr kotzte sondern hungerte, musste eine neue „Problemlösung“ her. Meine Mutter hörte zufälligerweise arbeitsbedingt einen Vortrag von Andrea und bat mich darum, unverbindlich Kontakt mit ihr aufzunehmen. Mit klopfendem Herzen vereinbarte ich einen Termin und hatte schon nach kurzer Zeit das erste persönliche Treffen mit Andrea. Der erste Eindruck war gut. Bei diesem ersten Termin sollte ich meine Situation/ mein Problem schildern. Es fiel mir anfangs sehr schwer – zumal ich zu diesem Zeitpunkt nicht das ganze Ausmass meiner Essstörung als Problematik erfasste. Von Termin zu Termin versuchte ich mich mehr zu öffnen, hatte jedoch immer wieder sture Phasen, in denen ich mich weigerte mitzuarbeiten. Andrea hat mich aber durch ihre direkte Art immer wieder an der richtigen Stelle eingeholt und mich zur Vernunft gebracht beziehungsweise besser gesagt an meinem gesunden Menschenverstand angesetzt, damit ich die Therapie und die Zusammenarbeit mit ihr fortsetze.

Nach circa 1 Jahr sehr vieler effektiver Termine bei Andrea, sah ich mich als so stabil an, mein Leben nun wieder ganz alleine – ohne ihre Unterstützung - zu bestreiten. Anfangs klappte es gut, ich arbeitete regelmäßig an mir und hielt eine gewisse Zeit stabil mein Gewicht. Irgendwann leider schlichen sich immer wieder mehr kranke Verhaltensweisen ein und ich verlor nach und nach wieder die Kontrolle über mein gesundes Ich. Meine Essstörung verselbstständigte sich und nach meinen Ausbildungsprüfungen, schwerem Liebeskummer und einer generellen Unzufriedenheit mit mir und meinem Leben war ich wortwörtlich wieder ausgehungert. Mein Gewicht war viel zu gering, meine Kräfte am Ende und mein Selbstbewusstsein am Boden. An diesem Tiefpunkt meines Lebens lernte ich meinen jetzigen Mann David kennen. Er hat mich von Anfang an akzeptiert wie ich bin, hat mit viel Geduld um meine Liebe gekämpft und mir immer wieder bewiesen, dass er mich von Herzen liebt und in jeder Situation zu mir steht. Lange Zeit habe ich es ihm sehr schwer gemacht und mich ihm lange nicht geöffnet, doch seine Geduld, Fürsorge und Liebe hat er nie aufgegeben und schlussendlich hat er mein Herz erobert. Mein Gewicht ist trotz ihm an meiner Seite auf den Tiefpunkt von 41,3 kg bei einer Größe von 1,69 cm gesunken, was im Nachhinein betrachtet einen lebensbedrohlichen Zustand dargestellt hat. Immer wieder hatte ich Magenschmerzen, fühlte mich schlapp, hatte Schwindelanfälle oder war einfach nur ausgepowert von nichts. David hatte von Beginn unserer Beziehung an immer wieder entschieden auf mich eingeredet, mein Gewicht zu steigern oder mir Hilfe zu holen – leider erfolglos. Eines Nachts hatte ich solche Magenschmerzen, dass er mich zusammengekrümmt vor Schmerzen in die Notfallpraxis fahren musste, in der ich eine Infusion erhielt. Durch diese Situation wurde mir bewusst, dass ich mit Hilfe von Andrea bereits soviel geschafft hatte und dringend wieder kämpfen musste – kämpfen für mich, für David, für meine Familie und für eine tolle Zukunft. Ich entschied mich schweren Herzens für eine stationäre Therapie...

Und so komme ich nochmals auf die am Anfang des Berichts angekündigte Aussage, dass irgendwann alles zu spät sein kann, zurück. Der Klinikaufenthalt war für mich lebensnotwendig. Wie ich bereits erwähnte, wog ich zum Beginn des Klinikaufenthaltes nur noch 41,3 kg (BMI 14,4) und somit hatte ich ein sehr starkes Untergewicht. Dass all meine Organe voll funktionstüchtig sind und die Krankheit keine körperlichen Schäden bei mir hinterlassen hat, ist ein Wunder. Ich bin zwar nicht gläubig, aber Gott sei Dank hierfür!

Am 19.03.2012 begann mein stationärer Aufenthalt in Bad Staffelstein/ Bayern. Ich bestand darauf die dreistündige Strecke dorthin alleine zu fahren. Auf der Fahrt flossen immer wieder Tränen und es schossen mir Gedanken in den Kopf wie „Was mache ich hier eigentlich?“, „Brauche ich das wirklich?“, „Ist es die richtige Entscheidung?“ , „Soll ich nicht wieder umkehren?“. Ich habe aber nicht umgedreht und kam in Bad Staffelstein aufgewühlt, unsicher, ängstlich aber auch in gewissem Mass gespannt an. Am Empfang wurde ich von einer sehr netten Stationspraktikantin abgeholt und auf die entsprechende Station gebracht. Bis dahin war ich noch recht gefasst, jedoch verlor ich bei Betreten der Station und dem damit verbundenem ersten Kennenlernen der Mitpatienten völlig die Fassung. Ein Mädchen dünner und krank aussehender als das andere. Eine Musterung von mir als Neuankömmling von oben bis unten fand statt. Ich fühlte mich sehr unwohl, alleine, hilflos und verzweifelt. Der Drang sofort wieder nachhause zu fahren, verstärkte sich mit dem Bezug meines Zimmers und der Vorstellung der Regeln der Station. Eine Stationsschwester informierte mich über die Tagesabläufe, die Stationsregeln und kontrollierte meine Tasche auf mitgebrachte Süssigkeiten. Bis auf einen kleinen Schokoriegel durften sich keinerlei Süssigkeiten im Zimmer befinden. Sie wies mich darauf hin, dass stichprobenartig Zimmerkontrollen sowie Alkoholtests durchgeführt werden, das ein tägliches Wiegen in Unterwäsche um 07:00 Uhr morgens erfolgt, das jede Mahlzeit mit einer festgelegten Gruppe gemeinsam stattfindet, dass man zunächst nach dem Essen für eine dreiviertel Stunde in einen Raum zur Beschäftigung „eingeschlossen“ wird und kein alleiniges Verlassen der Station erlaubt ist. Der Therapieplan beinhaltete jegliche Formen von Therapien – von Kunst-, über Einzel- und Gruppen- bis zur Sporttherapie. Wie ihr euch vermutlich vorstellen könnt, war ich erstmal von all diesen für mich schockierenden Informationen bedient und fühlte mich völlig verzweifelt. Wie sollte ich hier mindestens 6 Wochen bleiben, wo weder das Zimmer noch die Mitpatienten noch die Abläufe/ Regeln für ein Wohlbefinden beitragen?! Die ersten Tage tat ich mich sehr schwer. Ich öffnete mich weder den Pflegern, den Therapeuten noch den Mitpatienten, zog mich wann immer es ging auf mein Zimmer zurück, weinte sehr viel und entwickelte gegen alles und jeden eine Abwehrhaltung. Zwar befolgte ich alle Anweisungen, ging zu den erforderlichen Arztchecks, nahm an den Therapiestunden teil und versuchte die vorgeschriebenen Essensmengen zu essen. Es gab strikte Vorgaben, was und wieviel von was gegessen werden musste. Der Beleg zum Beispiel für die vorgeschriebenen zwei Frühstücksbrötchen war Gramm genau festgelegt, die warmen Mahlzeiten waren vorportioniert und es erfolgten sogenannte zusätzliche Joghurt- und Kuchenverordnungen um das Gewicht zu steigern. Ein Therapeut beziehungsweise eine Pflegekraft begleitete die Essen und kontrollierte die Einhaltung der Mengen. Bei Nichteinhaltung der Mengen und keiner vorgegebenen individuellen Gewichtszunahme gab es Konsequenzen wie Ausgehverbot oder Ausschluss aus der Bewegungstherapie. Nach der anfänglichen Abwehrhaltung kam ich nach circa zwei Wochen an den Punkt, an dem ich mich langsam öffnete und mir und der Klinik eine Chance gab. Dadurch entwickelte sich Freude an den Inhalten der Bewegungs- und Kunsttherapie, es fand mehr Austausch mit den Mitpatienten statt und ich durfte mit den folgenden Fortschritten und daher gelockerten Regeln an Unternehmungen mit den Mitpatienten teilnehmen. Endlich fühlte ich mich wieder mehr am Leben beteiligt. Ich kämpfte von nun an mit dem Ziel schnell wieder nachhause zu kommen und nicht mehr fernab von meinen Liebsten zu sein – mit Erfolg. Ich nahm im zähen Kampf in sechs Wochen 5 Kilo zu und entschied für mich selbst nach 6 Wochen den Aufenthalt zu beenden und entgegen der Empfehlung meiner Therapeutin keiner Verlängerung der stationären Therapie zuzustimmen.

Auch wenn der Anfang der Klinik sehr schwer für mich war, hat dieser bewirkt, dass ich nie wieder an diesen Punkt kommen möchte – weder psychisch noch physisch. Ich habe noch rechtzeitig die Reißleine gezogen und den Absprung in Richtung Leben geschafft. Viele der Mitpatienten hatten leider keine Einsicht Ihres Problems und sind noch heute am gleichen Punkt am kämpfen beziehungsweise haben leider den Kampf ganz verloren.

Vorweg möchte ich nehmen, dass dieser Klinikaufenthalt wortwörtlich ein Schockerlebnis war und mich aufgerüttelt hat. Die nachhaltigste Arbeit mit dem größten Erfolg leistet beziehungsweise hat jedoch Andrea geleistet. Die eigenverantwortliche Umsetzung im Alltag habe ich allein durch sie gelernt. Diese Verantwortung für sein eigenes Leben muss meiner Meinung nach bei einem selbst liegen und einem nicht abgenommen werden. Nur so kann man die Essstörung langfristig besiegen! Als „Aufwacherlebnis“ und einem engmaschig kontrolliertem Aufpeppeln aus einem lebensbedrohlichen Zustand hat sich der Klinikaufenthalt ausgezahlt, jedoch wäre ich ohne Andrea nicht an dem jetzigen Punkt.

Da mir nach der stationären Therapie bewusst war, dass ich den Wille habe der Krankheit den Kampf anzusagen und mithilfe einer anschließenden ambulanten Therapie den Kampf gewinnen möchte, kontaktierte ich erneut Andrea. Eine erneute Therapie bei ihr bedeutete zwar zwischenzeitlich für die Therapiestunden einen Weg von Ludwigsburg nach Freiburg auf mich zu nehmen, jedoch hatte sie mich bereits schon einmal ein großes Stück auf dem langen Weg in ein gesundes Leben begleitet und mich auf diesem Weg voran gebracht. Glücklicherweise bietete mir Andrea sehr zeitnah einen Termin an. Und so bin ich seit Sommer 2012 bis heute erneut bei Andrea in Therapie.

Zwischenzeitlich habe ich mein Gewicht auf ein Normalgewicht gesteigert, habe durch diverse Strategien den Umgang mit der Essstörungspersönlichkeit erlernt und bin auf einem sehr guten Weg die Essstörung ganz hinter mir zu lassen. Voraussetzung hierfür ist, dass ich kontinuierlich an mir weiter arbeite und aufmerksam bleibe.

Es liegen zehn harte Jahre hinter mir, die mir viel Kraft, Kampfgeist sowie Willensstärke abverlangt haben und für meine Liebsten auch eine sehr schwere Zeit war. Nun liegt aber eine wundervolle Zukunft vor mir...

Ich bin unendlich glücklich mit David, wir erwarten im Juni unser erstes Wunschkind, ich habe ein sehr herzliches und inniges Verhältnis zu meiner Familie, ich bin mit mir selbst im Reinen sowie zuversichtlich auf eine unbeschwerte Zukunft blicken zu können.

Durch die Körperveränderungen der Schwangerschaft stehe ich zwar vor einer neuen Herausforderung, jedoch habe ich die Willensstärke diese Veränderungen zu meistern und die Essstörung nicht nochmals gewinnen zu lassen. Ich habe immer wieder mal kranke Gedanken, doch ich weiß mit ihnen umzugehen und arbeite daran, dass diese zunehmend mehr in den Hintergrund verschwinden. Ich hoffe sehr, dass meine Geschichte euch bewegt, auch den Kampf aufzunehmen und ihn zu gewinnen. Es ist möglich wieder ein gesundes, unbeschwertes und essstörungsfreies Leben zu führen. Zwar benötigt es viel Geduld und viel Kraft, aber es lohnt sich – kämpft dafür!

Zum Schluss möchte ich mich noch bei ganz besonderen Menschen bedanken:

Danke mein lieber Schatz. Du bist der tollste, liebenswerteste und wunderbarste (Ehe-) Mann für mich. Ich freue mich über jeden einzelnen Moment, den ich mit dir teilen darf. Danke, dass du mit und für uns gekämpft hast und mir zu 150% zur Seite stehst – ich weiß dies sehr zu schätzen. Ich liebe dich so sehr.

Danke Mama und Papa, dass ihr mich mit so viel Liebe und Fürsorge erzogen habt und mich all die Jahre unterstützt habt. Ich liebe euch.

Danke liebes Schwesterherz. Deine Hartnäckigkeit kann sehr anstrengend sein, jedoch hat sie dazu beigetragen, dass ich auf dem besten Weg bin ein völlig gesundes Leben zu führen. Ich habe dich sehr lieb.

Danke Bruderherz. Auch wenn du nie meine kranken Gedanken verstehen konntest, warst du im Hintergrund immer für mich da. Ich habe dich sehr lieb.

Und danke Andrea für deine langjährige Unterstützung. Deine Arbeit ist einzigartig, bewundernswert und war für mich so hilfreich. Du hast erreicht, dass ich wieder von Herzen glücklich bin und optimistisch auf ein gesundes Leben blicken kann. Danke, dass du mich begleitet hast beziehungsweise mich begleitetest – du bist ein ganz besonderer Engel!

Nina S. (27 Jahre)