Sonja

Wenn ich heute daran denke, wie ich zum ersten Mal zu Andrea in die Beratungsstelle kam, habe ich das Gefühl, dass das unmöglich ich gewesen sein kann, die da wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen, ganz in schwarzer Kleidung unbeholfen auf dem Sofa saß. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, habe mich ziemlich hilflos gefühlt und ich glaube, nicht mal meine Jacke ausgezogen. Das war heute vor etwa dreieinhalb Jahren...
Bis dahin hatte ich schon einmal eine ambulante Therapie vermeintlich erfolgreich abgeschlossen (das Zielgewicht war erreicht!), eine Gruppentherapie mit anderen essgestörten Frauen abgebrochen und eine weitere Gesprächstherapie auch beendet, weil ich mich in meiner Person nicht ernst genommen gefühlt habe. Als ich auf Drängen meiner Mutter zu Andrea kam, war die Magersucht bei mir also schon seit etwa sechs Jahren chronisch. Mit meinen Eltern hatte ich ausgemacht, wenigstens einen Beratungstermin wahrzunehmen, um dann zu entscheiden, ob ich mich ein viertes Mal auf eine Therapie einlassen würde oder nicht.
Es ging mir zu diesem Zeitpunkt besonders schlecht, weil ich gewichtsbedingt unter sehr starken Depressionen litt und mich aufgrund der Trennung von meinem damaligen Freund sehr alleine und unsicher fühlte und die Essstörung dabei mal wieder das einzige war, was mich zu schützen schien. Das wollte ich mir eigentlich auch nicht nehmen lassen und dennoch bin ich seit diesem ersten Termin regelmäßig und sehr gerne in die Beratungsstelle gekommen, denn ich habe gelernt, die Dinge mit anderen Augen zu betrachten, was mir bisher nicht möglich gewesen war.
Allerdings war es kein einfacher Weg bis dahin. Ich habe mich lange nicht entscheiden können, was ich eigentlich wollte: Entweder bei der Magersucht bleiben, allem Unbekanntem keinen Raum geben, mich weiterhin aber schlecht fühlen oder mich von ihr abwenden, neue, d.h. verborgene Seiten an mir entdecken und kreativere Verhaltensmöglichkeiten entwickeln als bisher.
Um mich für letzteres entscheiden zu können, musste ich mir über den eigentlichen Stellenwert meiner Essstörung aber überhaupt erst einmal klar werden. Die Essstörung hatte einen Grund und alle Abhängigkeiten, in die ich mich begab, erfüllten einen tieferen Sinn. Dies zu verstehen, war ein langer Prozess, auf dem ich mich sehr gut begleitet fühlte und an dessen Ende für mich die Erkenntnis stand, dass ich ganz für mich selbst verantwortlich bin. Ich war nicht abhängig, sondern habe mich immer wieder abhängig gemacht und dabei ist mir mein eigentliches Ich abhanden gekommen, der innere Wegweiser und Pilot war verschüttet.

Um meine innere Mitte wieder zu finden, hat es mir sehr geholfen, Wege der Achtsamkeit zu gehen und meinen Körper mit seinen Bedürfnissen ganz bewusst wieder wahrnehmen zu lernen, insbesondere was Hunger, Durst und Sättigung betraf. Das schwierigste war, diese körperlichen Grundbedürfnisse von den Dingen zu trennen, die mich sonst im Alltag umgaben: Das Wetter, Telefonanrufe, Verabredungen, die Stimmungen anderer Leute, regelrechte Lapalien, wie die Zeit des Wartens in einer Schlange, usw. Diese Dinge waren bisher ausschlaggebend dafür gewesen, was ich wann und wo – und vor allem wie viel essen „durfte“. Das eigentliche Hungerempfinden habe ich dabei nicht mehr bemerkt. Ich hätte auch nie gedacht, dass sich das noch mal ändert, aber im Prinzip ist Magersucht eine Angewohnheit, die man sich auch wieder abgewöhnen kann, wenn man nur bereit dazu ist. Im Gehirn sieht das aus wie ein ganz normaler Lernprozess.
Ich habe in der Therapie erst verstanden wie sehr Magersucht durch biologische Phänomene bestimmt ist und dass Depressionen zum Beispiel gerade dadurch entstehen können, dass der Körper nicht ausreichend mit Kohlehydraten versorgt wird. Diese Tatsache hat mich einerseits ziemlich traurig gemacht, denn schließlich hatte ich mich bis zu diesem Zeitpunkt selbst ganz krank, müde und kaputt gemacht. Andererseits verbarg sich darin für mich der entscheidende Wendepunkt: Ich wollte meine Krankheit endlich hinter mir lassen. Wenn ich es schaffen würde, die Depressionen hinter mir zu lassen, könnte ich vielleicht auch weitere Strategien entwickeln, die ich alternativ zu Essstörungen einsetzen konnte, die mir helfen würden, nicht immer wieder in die alten, eingefahrenen Verhaltensmuster zurückfallen zu müssen.
Das bedeutete aber natürlich auch, ab jetzt entscheidend zuzunehmen. Essenspläne, Kalorientabellen und Gewichtskurven waren mir allerdings ein Graus, denn ich wollte nicht nur um der Zahlen willen essen und zunehmen müssen. Ich habe durchaus Pläne geschrieben, aber mir wurde sehr schnell vermittelt, dass es dabei einzig und allein um mich geht und um niemand anderen. Wie das dann im Einzelnen aussieht, ist sicher bei jedem anders. Für mich war zum Beispiel die Möglichkeit, den Prozess der Gewichtszunahme mit einem angeleiteten Krafttraining zu kombinieren der entscheidende Aspekt, um wieder einen positiveren Zugang zu meinem Körper und mir selbst zu finden. Ich fühlte mich nach einigen Wochen viel leistungsfähiger, sicherer und voller Kraft für den Alltag und meinen weiteren Weg, der auf einmal ungeahnte Freiheiten bot. Es tat so gut, die Fesseln zu lösen, so dass ich manchmal ganz euphorisch vor Glück wurde.
Heute ist nicht alles vergessen. Es gibt manchmal immer noch Tage, an denen es mir schwer fällt, positiv zu sein und mich nicht in alte Abhängigkeiten zu stürzen. Sie haben mich einfach so lange geprägt, dass es eine Illusion wäre, anzunehmen, dass sie in schwierigen Lebenssituationen nie mehr auftauchen. Aber ich habe die Chance, mich darin immer wieder auszuprobieren und dazuzulernen. Was ich in der Therapie erarbeitet habe, kann ich auf andere Lebensbereiche übertragen und so meinem inneren Piloten immer mehr Stärke verleihen. Das sind große Herausforderungen. Wenn man aber den Mut aufbringt, sich darauf einzulassen, können sie spannend sein und Perspektiven eröffnen, die wundervoll sind.

Sonja (24), April 2006