Eine wunderbare Selbstfindung
Anfänge sind schwer zu finden, vor allem dann,
wenn man nicht weiß, wann etwas angefangen hat.
Ich kann keinen genauen Zeitpunkt nennen, zu dem ich angefangen habe, mich von der fixen Idee dominieren zu lassen, nur noch bestimmte Dinge zu bestimmten Zeitpunkten zu essen. Genauso wenig kann und möchte ich konkrete Gründe dafür nennen, die jemand anderem außer mir selber die Schuld für dieses Verhalten geben, denn meine Probleme hätte ich immer auf weitaus gesündere Art und Weise lösen können, wenn ich mir früher eingestanden hätte, dass auch ich, die sonst immer nur anderen geholfen hatte, Hilfe benötigt.
Lange bevor ich die Therapie begonnen habe, wusste ich schon, dass meine (Nicht-) Essgewohnheiten krankhaft waren, dass ich immer magerer wurde und dass ich aus eigener Kraft mein Leben nicht wieder in den Griff kriegen würde. Zum Glück hat mich eines Morgens dann mein immer kleiner werdender gesunder Teil so laut angeschrien, dass ich endlich meine Hand nach Hilfe ausgestreckt habe. Zu diesem Zeitpunkt habe ich bei einer Größe von 164 cm gerade noch 34 kg gewogen; ein halbes Wunder, dass ich überhaupt noch normal gelebt habe.
Nicht leicht, sich von der Sucht zu verabschieden
Die ersten paar Wochen waren hart. Das Problem bei einem Kampf mit sich selber ist, dass eine Seite immer verliert, wütend, traurig und enttäuscht reagiert. Es ist nicht leicht, sich von der Sucht zu verabschieden; für mich war sie wie ein guter Freund geworden, der mir immer genau gesagt hat, was ich zu tun habe und mich nie im Stich gelassen hat.
Als dieser unfehlbare Wegweiser langsam seine Funktion aufgegeben hat, herrschte Leere, denn es gibt nichts, was die falsche Geborgenheit einer Sucht ersetzen kann, ohne sich in eine neue Abhängigkeit zu begeben. Heute bezeichne ich die Leere nicht mehr als solche, sondern als Freiheit, als Platz für Spontaneität und die Möglichkeit meiner eigenen Persönlichkeit.
Mit der Verabschiedung der Sucht aus meinem Kopf, war die physische Heilung kein wirkliches Problem mehr, sondern lediglich eine ziemlich anstrengende Zeit des großen Fressens. Erdnussbutter und Doppelkeksen sei Dank, habe ich innerhalb von sechs Monaten 14 kg zugenommen und seitdem auch nicht wieder verloren, abgesehen von normalen Schwankungen.
Seitdem ist jetzt ein Jahr vergangen. Die Umstände, in denen ich mich zurechtfinden muss, haben sich nicht geändert, aber ich. Alles, was wohl dazu beigetragen hat, dass ich mich fast zugrunde gerichtet habe, besteht noch genauso wie vorher, aber ich stehe dem anders gegenüber, denn heute lebe ich so, dass ich in allererster Linie mir selber gerecht werde und nicht den Erwartungen anderer. Ich möchte damit nicht sagen, dass ich immer weiß oder nur das tue, was ich will, sondern zulasse auf mich zu hören und damit zulasse überhaupt ich zu sein, mit all meinen Schwächen und Stärken.
Im Grunde war der Weg in und aus der Sucht eine wunderbare Selbstfindung, die ich trotzdem niemandem wünsche,
da sie mich wertvolle Jahre der jugendlichen Unbeschwertheit gekostet hat.