Weg in die Freiheit
Als ich gefragt wurde, ob ich einen Beitrag über meine Bulimie für diese Homepage schreiben könnte, habe ich sofort ja gesagt.
Vielleicht etwas zu schnell, denn jetzt stelle ich fest, dass es nicht so einfach ist, wie ich es mir gedacht hatte, in einer Seite meinen Weg aus der Bulimie zusammenzufassen.
Nach langem Überlegen kam ich zu dem Schluss, dass diese Erfahrungsberichte von Betroffenen vor allem MUT machen sollen, dass sie aufzeigen sollen, dass man dieser Krankheit entkommen kann, dass sie heilbar ist. Ich bin jetzt fast 23 Jahre und hatte Bulimie beinahe sechs Jahre von meinem 15. bis 21. Lebensjahr. Ich glaube, ich habe alle Höhen und Tiefen dieser Krankheit mitgemacht, kenne die Ängste, Zwänge, die Scham, den Selbsthass ... all das, was zum Herrscher deiner selbst wird und dir die Kontrolle und den freien Willen raubt!
Der Kampf gegen die Bulimie
Ich kann mich eigentlich an "normale" Zeiten, an ein Leben vor der Bulimie, gar nicht mehr so recht erinnern. Ich hatte mich so sehr an ein Leben mit dieser Kotzerei gewöhnt, dass ich überwältigt war von dem, was man fühlt, wenn man sich auf den Weg begibt, sein eigenes Leben zurückzuerobern. Für mich begann der Kampf gegen die Bulimie im Winter 2001/2002. Ich kann nicht mehr genau sagen, was letztendlich der ausschlaggebende Punkt war, aber diese absolut mutlose, vom Essen und Kotzen beherrschte Stimmung, in der ich mich befand, war für mich nicht mehr zu ertragen.
Rückblickend würde ich sagen, dass dieser Moment der absolute Tiefpunkt meiner Krankheit war. Sie isolierte mich immer mehr von meiner Umgebung, ließ mich eine Meisterin im Erfinden von Ausreden werden, warum ich mal wieder nicht dabei war, wenn meine Freunde sich trafen, und zwang mich somit in eine Einsamkeit, die mir jegliche Lebensfreude raubte.
Letzter Ausweg – eine Therapie
Das war der Augenblick, in dem ich trotz der Verzweifelung und Selbstenttäuschung, angetrieben von einem kleinen Rest Selbstachtungstrieb, als letzten Ausweg eine Therapie sah. Das war das erste Mal, dass ich überhaupt an so etwas wie Hilfe von außen dachte, das erste Mal, dass ich mir ehrlich eingestand, dass es mit dem ewigen "morgen wird es besser, morgen hör ich einfach auf" nicht funktionierte, dass ich wirklich Hilfe brauchte. Ich schämte mich ungemein, so dass es einige Versuche brauchte, bis ich auch wirklich bei einer Therapiestelle anrief.
Das erste Treffen war noch "unverbindlich". Mir wurde zugehört und erklärt, welche Arbeit auf mich zukommen würde, wenn ich das Ganze ernsthaft angehen wollte. Doch vor allem wäre es besser, wenn ich meine Eltern einweihen würde. "Oh Gott", dachte ich im ersten Moment. Zwar wussten meine Eltern, dass ich mal eine Essstörung gehabt hatte, aber laut meinen ihnen aufgetischten Lügen, war diese schon seit Jahren überwunden. Wieder ein Telefonat, welches mehrere Anläufe benötigte, aber mir einen Zugang zu enormer Unterstützung und Rückendeckung seitens meiner Familie eröffnete, die ich noch nicht erwartet hatte.
Somit konnte ich meine ambulante Therapie beginnen, die sich zu einer Reise zu mir selbst entpuppte. Sie war mit ganz schönen Höhen und Tiefen verbunden. Ich musste ganz neu lernen, was es heißt, zu leben, Gefühle zu spüren und zuzulassen, mir selbst treu zu bleiben - besonders im Umgang mit anderen - , Kontrolle abgeben zu können und Vertrauen zu haben. Ich habe erkannt, dass sich die Bulimie in all meinen Lebensbereichen und Verhaltensweisen eingenistet hatte, mich gefühlstaub und lebensfern hatte werden lassen. Vor allem aber habe ich erkannt, dass ich nicht alleine mit diesem Problem war und mich nicht schuldig fühlen oder schämen musste, dass ich in ihre Fänge geraten bin.
Jede einzelne Therapiestunde meiner eineinhalbjährigen Therapie brachte mich einen Schritt weiter - manchmal nur kleine, aber immerhin - auf meinen Weg aus der Essstörung. Meine Therapeutin gab mir das "Werkzeug", aber den Willen musste ich schon selbst aufbringen. Und das ist der Punkt: Ohne den echten Willen, von der Essstörung loszukommen, bringt - glaube ich - die beste Therapie nichts.
Das Beste, was ich machen konnte
Ich kann nur für mich sprechen, aber für mich war der Schritt in die Offensive, sprich, mir selbst einen Therapeuten zu suchen, das Beste, was ich machen konnte. Ich wäre wahrscheinlich zu keinem anderen Zeitpunkt so offen für Hilfe gewesen wie in diesem Moment der größten Verzweifelung. Natürlich überkommen mich auch heute manchmal noch schwache Momente, wenn ich traurig oder unzufrieden bin, aber ich habe gelernt, mit ihnen umzugehen, weiß, was ich tun muss, damit sie nicht im Fressen und Kotzen enden. Für mich war der Weg aus der Bulimie eine der besten Erfahrungen in meinem Leben. Es ist ein Weg in die Freiheit, den zu gehen sich auf jeden Fall lohnt.
Theresa ist inzwischen, ausgesöhnt mit sich und ihrer Essstörung, an einem Gehirntumor gestorben.