Was sind Essstörungen?
Essstörungen sind der fehlgeleitete Versuch einer Suche nach sich selbst
Wer unter einer Essstörung leidet, hat den natürlichen Bezug zum Essen verloren. Essen dient nicht mehr dazu, den Hunger zu stillen und damit dem Körper zu geben, was er braucht, um gut zu funktionieren. Essen, Hungern, übermäßig Sport treiben und Erbrechen werden vielmehr zur Ersatzbefriedigung für psychische Bedürfnisse und zum Ausweichverhalten in Konfliktsituationen.
Dahinter steht fast immer ein Mangel an Selbstbestimmtheit, Selbstwert und Ichgefühl.
Erst wenn wir uns von den Stimmen in uns und um uns herum nicht mehr vorschreiben lassen, wer wir sein sollen, werden wir wissen, wer wir sind und können sehen, wohin wir wollen.
Welche Rolle spielen die Gedanken?
Essstörungen beginnen im Kopf. Abwertende Gedanken, die wie unausweichliche innere Stimmen erlebt werden, richten sich gegen den eigenen Körper oder gegen das Selbst. Nach und nach verändern sich Denkinhalte und Denkprozesse suchtartig und damit in einer sehr belastenden Weise. Zwanghaftes Kreisen im Hamsterrad der eigenen Gedankenwelt um Kalorien, Gewicht, Essen, Figur und Bewegung verhindert zunehmend kreatives und zielgerichtetes Denken und sorgt für eine nachlassende Konzentration. Schwarz-Weiß-Denken teilt die Welt in gut und schlecht, richtig und falsch ein und lässt keine Zwischentöne mehr zu. Es gibt nur alles oder nichts, und damit keine Entwicklung und kein Wachstum. Das bewertende Denken ist ein weiteres Merkmal essgestörten Denkens. Es verhindert Mitgefühl, führt in die Selbstverachtung oder in einen Leistungskampf. Das macht das Leben mühsam und freudlos.
Welche Rolle spielt der Körper?
Selbstabwertende Gedanken werden auf den Körper übertragen, der so, wie er ist, nicht angenommen und oft als zu dick empfunden wird. Anstatt die eigene Persönlichkeit zu entwickeln und damit echten Selbstwert und Ichgefühl aufzubauen, wird der Körper manipuliert, um ihn der Vorstellung von einem Schlankheits- und Schönheitsideal möglichst nahe zu bringen. Davon erhofft man sich Anerkennung, Bestätigung und in der Folge ein besseres Selbstwertgefühl.
Welche Rolle spielen die Medien?
Die Mode- und Medienindustrie produziert ein schlankes, makelloses und dabei wirklichkeitsfremdes Körperbild, das fälschlicherweise Erfolg und Glück verspricht. Eine ganz große Rolle spielt auch die Möglichkeit der fotografischen Manipulation des eigenen Körpers durch Bildbearbeitung und die permanenten Vergleiche mit anderen. Insbesondere Instagram und TikTok spielen hier eine wesentliche Rolle. In den Menschen entstehen Bilder, wie sie sein sollten, die nichts mit dem zu tun haben, wie sie wirklich sind. Dieser Gegensatz zwischen Vorstellung und Wirklichkeit führt zu einem Druck, von dem man sich befreien möchte. Die Folge ist leider nicht, dass die Menschen sich von den Idealbildern abwenden, sondern dass sie mit allen Mitteln versuchen, sich ihnen anzugleichen. Bereits bis zu 40 % der sieben- bis 12-jährigen Normal gewichtigen vergleichen sich unbewusst mit dem gesellschaftlichen Schlankheitsideal, empfinden sich als zu dick und machen erste Erfahrungen mit Diäten, die bei ca. 5 % zu Essstörungen führen. Über 90 % aller Frauen entsprechen dem Körperidealbild natürlicherweise nicht. Sie quälen sich dennoch mit wiederholten Diäten, Sport oder Schönheitsoperationen, ohne das vorgestellte Ziel je erreichen zu können.
Wie viele Menschen leiden unter Essstörungen?
Jeder Dritte benützt in seinem Leben vorübergehend Essen zur Pseudoproblemlösung, anstatt Konflikte anzugehen, schwierige Gefühle anzunehmen oder die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und zu erfüllen. Normalerweise erkennt man früher oder später die Nachteile dieses Verhaltens und legt es wieder ab. 2-20 % derer, die Essen vorübergehend als Ersatzbefriedigung benutzen, finden allerdings aus dieser Phase nicht mehr heraus. Davon entwickeln 2 % Magersucht, 4 % Ess-Brechsucht, 15 % - 20 % Esssucht. Bei Magersucht beträgt der Anteil der Männer ca. 10 %, bei Bulimie 15 %, bei Esssucht sind es 50 %. Die Mehrheit aller Frauen in unserer Gesellschaft leidet unter latenten Essstörungen (nicht offensichtlichen). Diese Frauen haben ein normales Gewicht, empfinden sich aber trotzdem als zu dick und beschäftigen sich deshalb dauernd mit Diäten, Sport zum Abnehmen oder Schönheitsoperationen. Sie verachten ihren Körper und damit letzten Endes sich selbst.
Wer ist gefährdet?
Menschen, die später Essstörungen entwickeln, fühlen sich oft in ihrem Wesen nicht gesehen, verstanden und geliebt. Sie haben schon früh gelernt, die Bedürfnisse ihrer Umwelt zu erspüren und sich anzupassen, um sich dadurch zu Anerkennung und Bestätigung zu verhelfen. Dabei verlieren sie weitgehend den Kontakt zu ihren eigenen Bedürfnissen und entfremden sich von ihrem ursprünglichen Wesen. Anstatt sich um ihrer Persönlichkeit willen geliebt zu fühlen, gilt das Motto: "Nur, wenn ich schlank und attraktiv bin, hervorragende Leistungen bringe und niemandem Probleme bereite, bin ich liebenswert." So wird eine perfekte Rolle entwickelt. Da nun aber alle Anerkennung und Zuwendung dem Erhalt und Ausbau dieser Rolle zufließen, bleibt der Mensch, der sich dahinter versteckt, unerkannt und fühlt sich weiter ungesehen und ungeliebt. Im andauernden Rollenverhalten nehmen Ichgefühl und Selbstwert weiter ab, der Hunger nach Unabhängigkeit, Selbstbestimmtheit und Anerkennung nimmt zu.
Das sind ideale Voraussetzungen, um eine Essstörung zu entwickeln. Auslöser wie Verletzungen, Verluste, Enttäuschungen, Kritik, Versagen oder scheinbar unlösbare Probleme können dazu führen, dass man sich in Diäten, Überessen, Erbrechen oder extremen Sport flüchtet, um damit das Selbstgefühl zu verbessern. Ursächlich für diese Entwicklung sind sowohl die psychischen und körperlichen Anlagen, als auch die Qualität der Bindungen zu nahen Bezugspersonen, die Familienstrukturen und der gesellschaftliche Einfluss.
Welchen Sinn haben Essstörungen?
Essstörungen scheinen das Selbstwertgefühl anfangs zu verbessern. Hungern, Erbrechen und essstörungsbezogener Sport vermitteln zunächst das Gefühl von Unabhängigkeit, Körperkontrolle, Macht, Lebenssinn, Exklusivität (sich anders als andere fühlen) und Autonomie (sich selbstbestimmt fühlen). Sie helfen, Spannung, Stress und unangenehme Gefühle "in den Griff zu bekommen". Schnell wird allerdings aus dem anfangs selbst gewählten Weg ein ernstzunehmendes, suchtartiges Verhalten, von dem man kaum alleine loskommt. Die anfangs erlebte Macht wird zur Hilflosigkeit, die Selbstbestimmtheit zur Abhängigkeit von essgestörtem Verhalten, welches bald nicht mehr den gewünschten Effekt hat und in 10 - 15 % der Fälle tödlich endet.
Also ...
... sind Essstörungen kein Ausdruck von Willenlosigkeit, Disziplinlosigkeit oder persönlichem Versagen. Sie sind in allen Fällen Ausdruck von persönlichen Problemen und ein, (Fehl)-Versuch, diese zu lösen. Menschen mit Essstörungen sind auf einer irregeleiteten Suche nach sich selbst und einem erfüllten Leben. Um aus diesem Teufelskreis herauszukommen, bedarf es fachkundiger Hilfe.
Welche Essstörungen gibt es?
Die Diagnose ist nicht immer genau zu stellen, da es fließende Übergänge von einer Essstörung in die andere gibt. Häufig sind Essstörungen mit Ängsten, Zwängen und Depressionen verbunden.